Kann Cannabis bei der Behandlung von Autismus helfen?

An iPad showing a jigsaw inside a person's head and an autism awareness symbol

Immer mehr Menschen leiden an Autismus, einer neurologischen Entwicklungsstörung. Betroffene haben Probleme mit sozialer Interaktion und Kommunikation. Cannabis könnte dabei eine interessante Behandlungsmethode darstellen. Was anekdotische Berichte seit längerem behaupten, bestätigt 2019 nun auch eine israelische Studie. Doch viele Fragen bleiben offen.

Autismus bzw. Autismus-Spektrum-Störungen (ASD = Autism Spectrum Disorder) sind komplexe Entwicklungsstörungen, die das Gehirn betreffen. Es gibt viele verschiedene Formen der Krankheit, wobei Betroffene in den folgenden Bereichen Schwierigkeiten zeigen:

  • im Umgang mit anderen Menschen (soziale Interaktion)
  • in der verbalen und nonverbalen Kommunikation

Typisch sind auch sich wiederholende und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten. Das Asperger-Syndrom gilt als Form des Autismus, wobei kein Entwicklungsrückstand in der kognitiven Entwicklung oder Sprache vorhanden ist.

Autismus kommt viel häufiger vor, als viele Menschen denken. Gemäß der Weltgesundheitsorganisation (WHO = World Health Organization) leidet 1 von 160 Kindern an ASD, andere Quellen nennen zum Teil bedeutend höhere Zahlen. Unbestritten ist der dramatische Anstieg an Autismus-Diagnosen weltweit.

Verschiedene farbige Bleistifte und Buchstaben, die in einem Kreis um das Wort "Autismus" angeordnet sind

Man geht davon aus, dass sowohl genetische als auch Umweltfaktoren die Entstehung von Autismus begünstigen, ein umfassendes Erklärungsmodell hat sich noch nicht etabliert.

Cannabis als Behandlungsmethode für Autismus?

ASD gilt als nicht heilbar, dennoch existieren therapeutische Möglichkeiten, die das Leben autistischer Menschen verbessern. Dazu gehören kognitive, psychologische und pädagogische Therapien.

Immer lauter werden die Stimmen derjenigen Patienten, die auf die Therapie mit Cannabis setzen. Die bekannte Autorin Marie Myung-Ok Lee sprach bereits vor einigen Jahren öffentlich über Cannabis als medikamentöse Option für die Behandlung ihres autistischen Sohns:

„Marihuana ist kein Wundermittel zur Heilung von Autismus. Im Falle unseres Sohnes aber hat es seine Schmerzen und Entzündungen so stark gelindert, dass er wieder am Leben und am Lernen teilhaben kann. Es schützt ihn zudem vor den teilweise gefährlichen Nebenwirkungen pharmazeutischer Medikamente. Wir haben uns für eine gute Sorte entschieden (White Russian, favorisiertes Schmerzmittel für Krebspatienten im Endstadium) und eine gute Dosierung. Jetzt wo er keine Schmerzen mehr hat, kann J. zur Schule gehen anstatt in die Kinderpsychiatrie, wo die meisten seiner Freude aufgrund ihres aggressiven Verhaltens enden.“

Der außerordentliche Professor und Emeritus für Psychiatrie an der Harvard Medical School, Dr. Lester Grinspoon, hat 2010 ein Dokument zum Einsatz von Cannabis bei Autismus veröffentlicht.

In dieser Arbeit geht Dr. Grinspoon ausführlicher auf die Erfahrungen von Marie Myung-Ok Lee ein, die ihrem Sohn J. medizinisches Cannabis verabreicht. Der Professor fordert Wissenschaftler dazu auf, diese Erfahrungen ernst zu nehmen und weitere Untersuchungen zur medikamentösen Behandlung durchzuführen:

„Anekdotischen Hinweisen wird heutzutage weit weniger Beachtung geschenkt als früher, obwohl sie immer noch eine Wissensquelle für synthetische Medikamente und pflanzliche Derivate darstellen.  Um das therapeutische Potenzial von Chloralhydrat, Barbituraten, Aspirin, Kurare, Insulin oder Penizillin zu erkennen, bedurfte es keiner kontrollierten Experimente.“

Neben dem Bericht von Marie Myung-Ok Lee gibt Berichte von viele andere Kinder, bei denen Autismus-Symptome nach der Einnahme von medizinischem Cannabis zurückgegangen sind. Kalel Santiago zum Beispiel soll nach der Einnahme von CBD seine ersten Wörter gesprochen haben. Genau wie bei Epilepsie scheint es so zu sein, dass die Mehrheit der Eltern ihren autistisch veranlagten Kindern CBD-Öle verabreicht, offensichtlich mit positiven Ergebnissen. Wenn eine Aktivierung der Cannabinoid-Rezeptoren während des Wachstums des Kindes eine der Ursachen für autistische Störungen ist, muss auch überlegt werden, ob die Verabreichung von Antagonisten wie CBD diesen Effekt nicht stoppen kann.

In anderen Fällen erwies sich die Kombination aus THC und CBD als effektiver. Nach den vorliegenden Berichten profitieren diejenigen Kinder am meisten von einem erhöhten THC-Anteil, die sowohl an Epilepsie als auch an einer autistischen Störung leiden. Es gibt auch eine Fallstudie über einen sechs Jahre alten autistischen Jungen, dessen Symptome sich bei einer Behandlung mit dem synthetischen THC-Analogstoff Dronabinol merklich verbessert haben.

Alan Flashman, der in Israel bereits über 500 autistische Kinder mit medizinischem Cannabis behandelt hat, äußert sich zum optimalen Verhältnis von THC und CBD:

„Die Ergebnisse sind weiterhin ziemlich konsistent. Wie ich bereits berichtet habe, reagieren etwa 60 % der Kinder gut auf ein Öl mit einem Verhältnis von 20:1 (CBD zu THC). Weitere 15-20 % benötigen einen höheren THC-Anteil, häufig mehr THC als CBD. Die letzten 20 % bleiben etwas rätselhaft; manchmal macht eine Veränderung der Cannabissorte einen großen Unterschied. Manchmal müssen wir zugeben, dass die Behandlung fehlgeschlagen ist.“

Das Endocannabinoidsystem ist in fundamentaler Weise mit autistischen Störungen verbunden

In den letzten Jahren wurden interessante Forschungsergebnisse über autistische Störungen und das Endocannabinoidsystem veröffentlicht. Dabei wurde nachgewiesen, dass die CB1-Rezeptoren in denjenigen Hirnregionen am höchsten konzentriert sind, von denen man annimmt, dass sie in Autismus-Fällen dysfunktional sind, insbesondere im Zerebellum, im Hippocampus und in den Basalganglien.

Zwei blaue Röntgenstrahlen mit unterschiedlichen Teilen des Gehirns hervorgehoben

Wenn der menschliche Fötus heranwächst, spielen die CB1-Rezeptoren und die mit ihnen zusammenhängenden Endocannabinoide eine wichtige Rolle bei der Ausdifferenzierung der Neuronen und der Axonalmigration, beides Prozesse, die für eine normale neurologische Entwicklung wesentlich sind. Andere Studien legen zudem den Schluss nahe, dass die CB1-Rezeptoren für die Festlegung der Synapsenpositionierung selbst verantwortlich sein könnten. Eine Theorie lautet daher, dass die Aktivierung von CB1-Rezeptoren in der Kindheit autistische Störungen auslösen könnte, weil sie die normale Entwicklung des Gehirns unterbricht.

Gehirnrezeptoren.

Die Rolle der CB2-Rezeptoren bei autistischen Störungen

Auch die CB2-Rezeptoren spielen bei autistischen Störungen möglicherweise eine Rolle. Es wurde nachgewiesen, dass CB2-Rezeptor-Agonisten die Frequenz herabsetzen, in der bestimmte wichtige Immunzellen, die als Monozyten bekannt sind, das Endothel durchwandern, also die dünne Zellschicht, die den Kreislauf von den Geweben und Organen trennt. Monozyten gehören zu den Schlüsselzellen im Zusammenhang mit dem Immunsystem, und eine Unterbrechung ihrer Entwicklung und ihrer Funktionen wurde mehrfach im Zusammenhang mit der Entwicklung von autistischen Störungen gesehen.

Eine Studie aus dem Jahr 2013 hat gezeigt, dass bei Kindern mit Autismus die Konzentration von CB2-Rezeptoren in den Monozyten erhöht war, während die Konzentrationen von CB1-Rezeptoren und des Anandamid-abbauenden Moleküls Fettsäureamid-Hydrolase (FAAH) unverändert waren.

CB2-Rezeptor.

Die mögliche Rolle des Dopamin-Botenstoffsystems bei autistischen Störungen

Eine Fallstudie berichtet über einen Mann im mittleren Alter, für den zuvor eine Schizophrenie diagnostiziert worden war und der sich wegen psychotischer Symptome in eine psychiatrische Akutbehandlung begeben hatte, wo ihm dann zum ersten Mal die Diagnose eines Asperger-Syndroms gestellt wurde. Schizophrenie und das Asperger-Syndrom haben viele gemeinsame Merkmale und werden daher oft verwechselt.

Nach einer Behandlung mit dem antipsychotischen Medikament Aripiprazol besserten sich die Asperger-Symptome erheblich. Aripiprazol ist ein partieller Agonist an den Dopamin-D2-Rezeptoren, und es existieren belastbare Nachweise, die zeigen, dass sowohl Schizophrenie als auch das Asperger-Syndrom fundamental mit einer Dopamin-Dysfunktion zusammenhängen.

Dabei sieht es so aus, als ob auch Anandamid bei diesem Prozess eine Rolle spielt. Von Anandamid ist bereits bekannt, dass es eine Funktion für das Dopamin-Botenstoffsystem hat, auch wenn der genaue Mechanismus noch nicht exakt nachvollzogen werden kann. Aber die vorliegenden Studien weisen darauf hin, dass eine der vielen Funktionen von Anandamid innerhalb des zentralen Nervensystems darin bestehen könnte, die psychomotorischen und sozialen Aktivitäten zu modulieren, die primär durch den Dopamin-D2-Rezeptor ermöglicht werden.

Welche Rolle spielen die Gene für die Entwicklung von autistischen Störungen?

Früher wurde angenommen, dass der Anteil der Autismus-Fälle, der auf genetische Faktoren zurückzuführen ist, bei 90 % liegt. Heute geht man davon aus, dass diese Schätzung zu hoch angesetzt war, weil sie auf schlecht angelegten Zwillingsstudien beruhte, und dass die tatsächliche Vererblichkeit von Autismus nur bei 50 % liegt.

Eine Form des Autismus, das fragile-X-Syndrom, ist die häufigste monogene (d. h. auf eine Mutation eines einzelnen Gens oder Chromosoms zurückzuführende) Form des vererbten Autismus und wird durch eine Inaktivierung des FMR1-Gens verursacht, das für die Produktion des Proteins FMR verantwortlich ist. Es ist bekannt, dass das Endocannabinoidsystem an der Steuerung kognitiver Funktionen wie Angst, Schmerzwahrnehmung und Empfänglichkeit für Anfälle beteiligt ist, ferner an der synaptischen Plastizität (die Fähigkeit der Synapsen, sich je nach ihrem Aktivitätslevel zu verstärken oder abzuschwächen), und dass alle diese Eigenschaften beim fragilen X-Syndrom beeinträchtigt sind.

Eine Studie, die sich mit der Erforschung der Rolle des Endocannabinoidsystems bei männlichen Mäusen mit züchtungsbedingt fehlendem FMR1-Gen befasste, fand heraus, dass sich bei einer Blockade der CB1-Rezeptoren die kognitiven Schäden, die Schmerzwahrnehmung und die Empfänglichkeit für Anfälle normalisierten, während sich bei einer Blockade der CB2-Rezeptoren die Angstzustände normalisierten.

Israelische Studie bestätigt, dass Cannabis die Symptome von Autismus lindert

Wie wir weiter oben gesehen haben, gibt es viele Patientenstimmen, die sich für die Behandlung von ASD-Symptomen mit Cannabis stark machen. Wichtig ist an dieser Stelle aber der Hinweis, dass es sich um Einzelbefunde handelt, die nicht durch strikte empirische Tests begleitet wurden, die sicherstellen, dass keine anderen Faktoren für den aufgetretenen Effekt verantwortlich sind.

Diese Befunde reichen daher für die meisten Ärzte nicht aus, um ohne Bedenken THC-haltige medizinische Cannabisprodukte für Kinder zu empfehlen, besonders wenn man berücksichtigt, dass auch Bedenken hinsichtlich der Wirkungen von THC auf die Hirnentwicklung bestehen. Außerdem reagieren unterschiedliche Erscheinungsformen des Autismus ganz verschieden auf die Verabreichung von THC, und es bedarf weiterer Forschungsarbeiten, um genauer bestimmen zu können, wie diese Reaktionen aussehen können.

Hoffnung macht eine israelische Studie aus dem Jahr 2019. Forscher der Ben-Gurion University of the Negev (BGU) und des Soroka University Medical Center bestätigen, dass Cannabis eine gut verträgliche, sichere und wirksame Behandlungsform von ASD-Symptomen darstellt. Es bleibt zu hoffen, dass der Weg damit geebnet ist für weitere Forschungsarbeiten. Vor allem doppelblinde, placebokontrollierte Studien sind jetzt dringend nötig, wie sie Dr. Victor Novack vom BGU-Soroka Clinical Cannabis Research Institute fordert.

  • Disclaimer:
    Dieser Artikel stellt keinen Ersatz für eine professionelle medizinische Beratung, Diagnose oder Behandlung dar. Wenden Sie sich immer an Ihren Arzt oder eine andere zugelassene medizinische Fachkraft. Sie sollten wegen etwas, das Sie auf dieser Website gelesen haben, weder zögern, Ihren Arzt aufzusuchen, noch deswegen eine medizinische Beratung missachten.

Comments

2 Kommentare zu „Kann Cannabis bei der Behandlung von Autismus helfen?“

  1. Ich hoffe die derzeitigen Studien bzgl. CBD /Cannabidiol werden schnell abgeschlossen. Ich denke eine Menge Menschen würden die Zulassung als Medikament sehr begrüßen.

    1. Ich selber habe auch Autismus und habe letztes Jahr angefangen Cannabis zu konumieren. Es hilft mir wirklich sehr und ich kann Sachen abrufen die mir sonst einfach nicht in den Sinn kommen obwohl ich sie müsste. Meine Leistungen in der Schule simd besser geworden und auch im Lehrbetrieb läuft es besser, ebenfalls bin ich sozial besser geworden, extrovertierter als vorher, keine Berührungsängste mehr und allgemein viel weniger Panikattacken, auch mein Selbstbewusstein ist sehr gut geworden. Ich hoffe nur, dass ich es mal legal verschrieben bekomme und keine Straftaten mehr begehen muss um die Symptome zu lindern.

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    Sanjai Sinha

    Dr. Sanjai Sinha ist Mitglied der akademischen Fakultät des Weill Cornell Medicine Colleges in New York. Er verbringt seine Zeit damit, Patienten zu begleiten, Bewohner und Medizinstudenten zu unterrichten und im Gesundheitswesen zu forschen. Er genießt die Ausbildung von Patienten und die Ausübung evidenzbasierter Medizin. Sein starkes Interesse an medizinischer Überprüfung kommt von diesen Leidenschaften.
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