„In deinem Körper steckt mehr Weisheit als in deiner tiefsten Philosophie.“
Friedrich Nietzsche (Deutscher Philosoph, 1844-1900)
Wie lokalisieren und erkennen wir ein Juckreiz an unserer Schulter? Oder ein brennendes Gefühl auf dem Hals? Wie schafft es unser Gehirn, dass wir auf zwei Beinen balancieren können, wenn wir gehen, und wie wissen wir, wie unsere Körper im Raum lokalisiert ist, wenn wir unsere Augen schließen?
In ihrem Buch „Der Geist im Körper: Das Ich und sein Raum“ fassen die Autoren Sandra und Matthew Blakeslee ihre Antworten auf diese Fragen so zusammen:
„Jeder Punkt auf deinem Körper, jedes innere Organ und jeder räumliche Punkt bis an das Ende deiner Fingerspitzen ist in deinem Gehirn kartographiert. Deine Fähigkeit zu fühlen, dich zu bewegen, und in einer physischen Welt zu handeln gründet in einem verzweigten Netzwerk flexibler Körperkarten, die im Gehirn verteilt sind – Karten, die wachsen, schrumpfen, und sich laufend verändern, um sich den Bedürfnissen anzupassen.“ [1]
Das Körperabbildungssystem und die Verbesserung körperlicher Wahrnehmungen
In seiner Studie „On Being Stoned“ stellt der Harvard Psychologe Charles Tart fest, dass Marijuana Nutzer der Überzeugung sind, dass ihnen ein High helfen kann, einen besseren introspektiven Zugang zu ihren gegenwärtigen Körperempfindungen zu erhalten. Viele Nutzer hielten die folgende Aussagen für zutreffend:
„Meine Haut ist sehr sensibel“
„Schmerz fühlt sich intensiver an, wenn ich mich auf ihn konzentriere“
„Meine Wahrnehmung meiner Körperform ist merkwürdig; die gefühlte Form meines Körpers entspricht nicht wirklich der tatsächlichen Form (zum Beispiel fühlt man sich ungleichgewichtig, Teile des Körpers fühlen sich schwer an, andere dagegen leicht).“
„Ich fühle eine sehr angenehme Wärme in meinem Körper“
„Ich bin mir des Schlagens meines Herzens sehr viel stärker bewusst“ [2]
Der Neurowissenschaftler Antonio Damasio weist ebenfalls darauf hin, dass wir alle „interozeptive“ Sinne haben, die uns ein Gefühl für das Körperinnere geben. Für Damasio basiert dieses System auf einem repräsentationalen Körper-Kartographierungssystem (auch ’somatosensorisches System‘ genannt), welches sich entwickelt hat, um uns interne Zustände des Körpers zu vergegenwärtigen, wie z.B.
„(…) Schmerzzustände, Körpertemperatur, Erröten, Juckreiz, Frösteln, viscerale oder genitale Reize; (…). [3]
Könnte es sein, dass Marijuana mit diesem Körperabbildungssystem interagiert? Wir wissen auch, dass große Dosen von Marijuana zu Körperabbildungsverzerrungen führen können, die oft in der Literatur beschrieben wurden. In einem Bericht über eine solche Erfahrung nach einer größeren Dosis von Haschisch schrieb der amerikanische Schriftsteller Bayard Taylor (1825-1878):
„Das Gefühl der Begrenztheit – der Limitierung unserer Sinne in den Grenzen unseres eigenen Fleisch und Blutes – löste sich plötzlich auf. Die Wände meines Körpers explodierten und fielen in sich zusammen; und, ohne daran zu denken, welche Form ich hatte – ja sogar ohne noch eine Idee von Form zu haben – fühlt ich mich, als würde ich in einem schier unendlichen, ausgedehnten Raum existieren. Das Blut, welches durch mein Herz pulste, schoss unzählige Meilen, bevor es meine Extremitäten erreichte; die Luft, die ich in meine Lungen zog, dehnte sich zu ganzen Seen durchsichtigen Äthers aus, und meine Schädeldecke war breiter als das Himmelsgewölbe“. [4]
Dieser Bericht zeigt, wie stark ein Marijuana das eigene Körperabbildungssystem beeinflussen kann – und er zeigt auch, dass es eine Frage der Dosis und des Gebrauchs ist, ob Marijuana bei der Introspektion helfen kann oder nicht. Während ein mäßiges High sicher helfen kann, uns körperliche Vorgänge stärker zu Bewusstsein zu bringen und unsere innere Wahrnehmung zu intensivieren, kann eine höhere Dosis sicher auch Misrepräsentationen und Verzerrungen unserer Körperrepräsentation hervorrufen.
Wie man seinen Körper während eines High ‚verlieren‘ kann
Tart stellt in seiner Studie ebenfalls fest, dass Nutzer bei stärkerer Dosierung von Marijuana offenbar ihren Körper „vergessen“. Viele Nutzer stimmten mit den von ihm vorgeschlagenen Beschreibungen als häufigen Effekt von Marijuana bei einem starken High überein:
„Ich verliere das Bewusstsein für den Großteil meines Körpers, es sei denn, ich lenke meine Aufmerksamkeit spezifisch darauf, oder ein starker Stimulus erfordert dort meine Aufmerksamkeit.“
„Während meiner Phantasieausflüge habe ich das Bewusstsein für meinen Körper vollkommen verloren, das heißt ich war so in Gedanken verloren, dass mein Körper genauso gut für eine Weile nicht hätte existieren können.“
„Ich habe vollkommen das Gefühl für meinen Körper und die externe Welt verloren und fühlte mich dabei als würde ich im unendlichen Raum schweben (nicht notwendigerweise in physischem Raum).“ [5]
Wie kann man solche Effekte erklären? Könnte es sein, dass Marijuana zwar das Körperwahrnehmungssystem auf eine Weise stimuliert, dass aber auch die Imagination und das episodische Gedächtnis angeregt werden, so dass unsere Aufmerksamkeit auch vollkommen von unserem Körper abgelenkt werden kann? An diesem Punkt möchte ich dies vorerst als interessante Hypothese stehen lassen.
Endocannabinoide, exogene Cannabinoide und das Körperabbildungssystem
Die obigen Beobachtungen führen zu interessanten Fragen. Wie beeinflusst Marijuana unsere Körperabbildungssystem? Wir wissen, dass andere Wirkungsweisen von Marijuana auf einer Interaktion mit einem bereits exisiterenden endocannabinoiden System im Gehirn beruhen. Wir wissen aber zum Beispiel auch, dass Endocannabinoide eine Rolle bei der Wärmeregulierung im Körper spielen – welches sind andere Funktionen im Körperabbildungssystem und wie spielen Endocannabinoide dabei eine Rolle?
Kann eine Marijuana-Sorte mit einem höheren CBD Anteil verschiedene Funktionen dieses Körperabbildungssystem anderes beeinflussen als andere Sorten?
Es schient offensichtlich zu sein, dass solche Fragen zu interessanten Entwicklungen in der Wissenschaft und Medizin führen werden. Es ist höchste Zeit, diese Fragen weiter zu verfolgen.
[1] Blakeslee, Sandra, and Blakeslee, Matthew, The Body has a Mind of Its Own. (2007), Random House Trade Paperbacks, New York, S.7.
[2] Tart, Charles T. (1971). On Being Stoned: A Psychological Study of Marijuana Intoxication. Palo Alto, Cal.: Science and Behavior Books, S. 109-126.
[3] Damasio, Antonio (2003). Looking for Spinoza. Joy, Sorrow, and the Feeling Brain. Harcourt Books., S.106.
[4] Taylor, Bayard (1863). The Land of The Saracens, or Pictures of Palestine, Chapter X, Asia Minor, Sicily and Spain. http://www.online-literature.com/bayard-taylor/lands-of-the-saracen/(Hypertext Version 2009).
[5] Tart 1971, S.110.